Die Parabel vom Adler auf dem Hühnerhof

Einst fand ein Bauer bei einem Spaziergang durch den Wald ein Adler-Ei. Er nahm es mit nach Hause und legte es zu den Eiern einer brütenden Henne. Als die Brutzeit vorbei war, schlüpfte der kleine Adler gleichzeitig mit den Küken aus. Weder er noch die Henne, waren sich ihrer unterschiedlichen Gattung bewusst, und so wuchs der Adler zusammen mit den Küken im Hühnerhof auf. 

Die Henne lehrte ihn, wie man in der Erde nach Würmern und Insekten scharrt und wie man das Hühnerfutter vom Bauer aufpickt. Sie brachte ihm bei wie man gluckert und gackert. Sie lehrte ihn auch, dass Hühner nicht fliegen können und dass sie ihre Flügel nur dazu benutzen können, um bei auftauchender Gefahr schnell wegzurennen. 

Als Letztes kam noch der Hahn auf ihn zu, schaute ihm tief in die Augen und sagte mit ernster Stimme: „Wir Hühner leben hier ein schönes und sorgloses Leben. Der Bauer sorgt gut für uns und gibt uns ausreichend Futter. Es gibt jedoch eine große Gefahr- und die kommt aus der Luft. Es gibt in dieser Gegend mächtige Vögel, die sich aus großer Höhe lautlos auf uns herunterstürzen und versuchen uns zu packen und mitzunehmen. Wir nennen sie Adler. Sei auf der Hut vor ihnen. Achte immer darauf, was sich am Himmel über dir tut.“ Und so kam es, dass jedes Mal, wenn die beeindruckende Silhouette eines Adlers hoch oben am Himmel auftauchte, der kleine Adler, zusammen mit der ganzen Hühnerschar, mit aufgeregtem Gegackere, sich ins sichere Hühnerhaus flüchtete.

Da der kleine Adler etwas mutiger als die restlichen Hühner war, wagte er dennoch ab und zu, in diesen Momenten, ein paar Schritte ins Freie zu machen. Scheu und ehrfürchtig schaute er nach oben gen Himmel. Es beeindruckte ihn zutiefst zu sehen, wie die Adler anmutig und majestätisch ihre Schwingen ausgebreitet hielten, sich vom Wind tragen ließen, durch die Lüfte schwebten und hoch oben ihre Kreise zogen. Er musste dennoch immer aufpassen, dass ihn seine Henne nicht dabei erwischte, denn sonst gab es ein großes “Donnerwetter“. Er musste sich anhören, wie leichtsinnig und naiv er doch sei, sein Leben derartig leichtfertig aufs Spiel zu setzen. 

Es konnte ihn jedoch nichts davon abhalten, immer wieder mal einen Blick zu riskieren. Ab und zu musste er weinen, wenn er sich vorstellte, wie schön es doch sein muss, ein Adler zu sein. Und manchmal, in besonderen Nächten, träumte er gar davon, selbst ein solch königlicher Vogel zu sein.

Und so vergingen Monate um Monate, und der kleine Adler wurde größer und stattlicher. Dennoch: Hätte man ihn nicht an seiner Gestalt erkennen können, wäre man kaum in der Lage gewesen, ihn von den Hühnern zu unterscheiden, so perfekt hatte er all ihre Verhaltensweisen angenommen.

Eines Tages kreiste ein großer Adler oben am Himmel. Plötzlich entdeckte er den kleinen Adler unten im Hühnerhof. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. „Was macht einer meiner Gattung dort unten im Hühnerhof?“ fragte er sich. Lautlos senkte er sich hinunter, und eh sich der kleine Adler versah, war der große Adler schon neben ihm gelandet. Der kleine Adler bekam einen Riesenschreck. Er zitterte am ganzen Körper vor Angst und glaubte, gleich habe sein letztes Stündchen geschlagen. Erst nach einiger Zeit konnte er sich ein bisschen beruhigen, als er merkte, dass dieser große Vogel ihm wirklich nichts anhaben wollte. Der Adler blickte ihm in die Augen und fragte, was er hier bei den Hühnern mache. Der kleine Adler antwortete etwas verwirrt: „Ich verstehe deine Frage nicht. Ich bin ein Huhn und hier zur Welt gekommen.“ Der Adler traute seinen Ohren nicht und sagte mit forscher Stimme: „Du bist kein Huhn. Du bist ein Adler. Breite deine Flügel aus und fliege mit mir zu deiner wahren Familie.“ Aber der kleine Adler sah ihn nur mit großen Augen an und wusste nicht, was er mit diesen Aussagen anfangen sollte. Als der Adler sah, dass seine Worte nicht fruchteten, erhob er sich wieder und flog davon.

Eines Tages kam ein Ornithologe des Weges und fragte den Bauer verwundert, warum er einen Adler, den König aller Vögel, zu einem Leben auf dem Bauernhof zwinge. Der Bauer erzählte ihm die Geschichte und betonte, dass der Adler freiwillig bei den Hühnern bleibe, weil er sich vollständig mit ihnen identifiziert habe. Der Bauer willigte aber sofort ein, als der Ornithologe ihn fragte, ob er versuchen dürfe, den Adler zu seinem wahren Wesen zu erwecken. 

Als erstes nahm er den Adler in die Arme, hob ihn in die Höhe und sagte zu ihm: „Du bist ein Adler. Du kannst fliegen. Breite deine Flügel aus und fliege!“ Doch der kleine Adler war nur verwirrt, und als er sah, wie die Hühner Körner pickten, sprang er hinab, um wieder zu ihnen zu gehören. 

Unverzagt nahm der Ornithologe den Adler am nächsten Tag mit auf das Dach des Hauses und drängte ihn wieder: „Du bist ein Adler. Breite deine Flügel aus und fliege!“ Doch der Adler fürchtete sich vor der großen Höhe und davor runterzufallen.

Am dritten Tag machte sich der Ornithologe früh auf und nahm den Adler mit auf einen hohen Berg. Dort hielt er den Adler in die Luft und ermunterte ihn wieder zu fliegen. Der Adler zögerte noch immer. 

Da kam es, dass, wie aus dem Nichts, gleich mehrere Adler hoch oben am Himmel auftauchten und dabei viele Schreie ausstießen. Diese Schreie gingen dem kleinen Adler durch und durch, und einer ging ihm mitten in sein Herz. 

Plötzlich wurde in ihm eine tiefe Erinnerung wachgerufen, und sie gab ihm den Mut, seine Schwingen auszubreiten und von den Armen des Ornithologen runterzuspringen. Tränen der Freude kamen ihm, als er feststellte, dass er sich tatsächlich, kraft seiner Flügel, in der Luft halten konnte. Schon nach kurzer Zeit hatte er gar sein ganzes Flugrepertoire reaktiviert und war damit in der Lage, zu den anderen Adlern hochzusteigen, die ihn herzlich willkommen hießen – und zusammen entschwanden sie am blauen Horizont.

Es ist Zeit…
Es ist Zeit zu erkennen, wer du bist. 
Es ist Zeit dein Adlererbe anzutreten.
Es ist Zeit, den Mut zu haben, deine Flügel auszubreiten und zu fliegen!


 


Sabine Witz, Praxis für Psychotherapie nach dem Heilpraktikergesetz, Energetische Psychologie & Online Therapie